zoks.de 04/2000 24.04.2000 Kein schöner Zock (2): Gothic Die Ästhetik des Bösen Diese News stammt vom göttlichen J.R.R. Terrorian: In Bochum bei Piranha-Bytes wird das Action Computerrollenspiel "Gothic" entwickelt, und wir wünschen den Entwicklern, daß sie es noch rechtzeitig vor dem grossen Rollenspiel-Überdruß auf dem Markt bringen können. Wir fragen uns zunächst: Was ist und bedeutet eigentlich "gotisch"? 2000-04-24_thn.jpg Stilbruch: Romanische Rundbögen und Sandsteinmauern In der Architektur diese Spitzbögen (~12.-16. Jahrhundert), das hilft uns zur Erklärung des Spiels aber kaum. Eher der (englische) Schauerroman des 18. Jahrhunderts: Mary Shellys "Frankenstein" ist die bekannteste "gothic novel" - die Entwicklung geht fort bis zu Edgar Allen Poe, Howard Phillips Lovecraft, Dostojewski und auch noch George Orwell. Versatzstücke des Gotischen sind Nachtszenen, wilde Landschaften, Verliese, Ruinen, Klöster, Burgen, Gewölbe. Dort spielen sich unerklärliche Verbrechen, Beschwörungen oder rituelle Opferungen ab, sind verborgene Mächte, wahnsinnige Wissenschaftler und finstere Tyrannen am Werk, spielen Visionen, Träume, Ängste, Übernatürliches der menschlichen Ratio muntere Streiche. Kurz: Das Irrationale, Übernatürliche und Unbegreifliche samt seiner Sendboten tritt an, um den aufgeklärten Geist, den rationalen Verstand, des Menschen zu verhöhnen. Wenn wir es ganz modern fassen, so gibt Batmans Gotham samt seiner Schurken (Joker, Doppelgesicht), die meist im Arkham Asylum sitzen, eine hervorragendes Bild vom Gotischen. EINGELOCHT Gothic beginnt im Knast. In einem riesigen Big-Brother-Knast ohne Wachen. Eine magische Barriere (bald: elektronische Fußfesseln) verhindert das Weglaufen. Die Insassen schürfen Erz für das menschliche Königreich. Auch heutzutage arbeiten Knastinsassen (v.a. in den USA) für große Konzerne (wie z.B. Boeing). Das geschürfte Erz wird zu Waffen verarbeitet, um damit die Armee gegen ins Reich einfallende Orks auszurüsten. Die Strafkolonie hat ihre eigene Hierarchie: Auf der einen Seite das alte Lager, das unter der Herrschaft der Erzbarone steht, die den Großteil des Tauschhandels mit der Außenwelt und damit die Profite kontrollieren, und auf der anderen Seite das kleinere neue Lager, dessen Bewohner sich vom alten Lager abgespalten haben, um ihre eigene kleine Mine aufzubauen und wie besessen an ihrem Ausbruchsplan arbeiten. Außerdem gibt es noch die Weltuntergangssekte, die eher den Bewohnern des neuen Lages zugeneigt sind. Als unschuldig Eingelochter gilt es, auszubrechen und zu fliehen. Ein bißchen fühlt man sich an "nennen sie micht Snake" Pliskin ("Die Klapperschlange") erinnert. Der ging in den Knast, in Gothic muß man 'raus. AUSGEWÜRFELT + ANGESPIELT "Klar, daß wir bei Piranha Bytes Rollenspielfreaks sind. Gerade deshalb sind wir der Meinung, daß nicht nur eingefleischte Spezialisten ihren Spaß damit haben sollten." Das scheint einer der Gründe zu sein, warum die Steuerung von GOTHIC mit zehn Tasten auskommen soll. Einfache Bedienung ist eine der höheren Prämissen der Entwickler. Charakterklassen sind Kämpfer, Diebe, Magier und Psioniker. Eine Charaktergenerierung entfällt bei Gothic. Die Ausbildung erfolgt im Spiel selbst - ohne genretypisches Würfeln und Statistiken. Ob das klappt? Ich habe ganz gern einige Werte, woran ich mich festhalten kann. Aber ich bin kein Fanatiker in der Hinsicht. Sehr wahrscheinlich ist auch, daß die Piranhas Ex-Grufties sind. Und Grufties sind quasi der Rückzug einer romantischen Subkultur, die der politischen Kämpfe der Punker/Autonomen-Szenen überdrüssig war. Der dicke Robert von The Cure, Joy Division und Siouxsee and the Banshees waren klassische Gruftie-Bands, das aber nur am Rande. ABGEKÄMPFT Gespielt wird in third-person-view. "Normale Kleidungsstücke, Rüstungen und Helme werden exakt an der Spielfigur dargestellt, so daß der Spieler auf einen Blick sieht, ob es sich wirklich um eine gute Idee handelt, nur mit einer leichten Lederrüstung und einer Stoffkappe bekleidet, den Söldner-Veteranen im plattenverstärkten Kettenpanzer zu einem netten Duell herauszufordern. Monster haben ein Privatleben. Sie reden miteinander, spielen Spiele oder fummeln sich einfach nur an den Füßen rum. Wenn man bei Gothic um eine Ecke biegt, wird man genau das beobachten können: Ein Ork sitzt auf dem Boden und spielt sich an den Füßen. Er sieht Dich, springt auf, brüllt, schnappt sich seine Barbarenstreitaxt(!) und stürmt auf Dich zu! Generell stellt sich in Gothic nicht die Frage "Wie komme ich jetzt durch die Tür?" sondern "Wie komme ich an dem Monster vorbei?". Die Gesamtgesellschaft in Gothic soll über eine Art Sozialsytem verfügen, ich vermute dahinter allerdings mehr PR-Strategie als umgesetzte Programmierung. Aber auch hier gilt: erst testen, dann meckern. Einfache Rückwirkungen auf die Gesellschaft führte bereits "Baldur's Gate", "Planescape Torment" entwickelte das Konzept logisch weiter, ob "Gothic" da anknüpfen kann, werden wir sehen. ABSPANN Wenn Gothic auch nur annährend die Atmosphäre 'rüberbringt, die wir von Frankenstein, Arthur Gordon Pym, Charles Dexter Ward, Animal Farm oder Batman kennen, dann wird es ein gutes Spiel. Eine Portion Skepsis über den Status des Spiels ist durchaus angebracht, wenn man im Online Developer Diary auf den letzten Eintrag vom 13.10.1999 stößt ... und außerdem bei Phenomedia (genau, die Sumpfenten, äh Moorhühner) Screenshots von Gothic findet - beide Firmen sitzen im gleichen Gebäude. Aber ich will ja nicht unken... Erscheinen sollte das Spiel schon im März, nun hat man den Termin auf Sommer verschoben. Der erste Bericht zu Gothic ist vom Januar 1998. Ein kleines Bonbon bietet Gothic hinsichtlich der musikalischer Kooperative. Die Gothic-Rockband "In Extremo" veröffentlichte im Januar die Single "This Corrosion". Darauf finden sich ein umfassender Multimediateil mit AVIs, einer Demo und Screenshots zum Spiel.