GIGA Game TV Test: Gothic (Rollenspiel) von Jörg Luibl, 27.03.2001 Einige Jahre mussten sich die Gothic-Fans gedulden, doch jetzt ist es endlich so weit: Das erste 3D-Rollenspiel aus deutschen Landen, genauer gesagt von Piranha Bytes aus Bochum, tritt in den Ring gegen den direkten Konkurrenten Ultima IX. Aber der Newcomer will dank innovativem Gameplay und einer satten Portion Rollenspiel selbst Baldur`s Gate 2 in Verlegenheit bringen. Ob die Senkrechtstarter aus dem Ruhrgebiet den britannischen Riesen ausknocken und die Schwertküste unsicher machen können, erfahrt Ihr in unserem ausführlichen Test! Einige Jahre mussten sich die Gothic-Fans gedulden, doch jetzt ist es endlich so weit: Das erste 3D-Rollenspiel aus deutschen Landen, genauer gesagt von Piranha Bytes aus Bochum, tritt in den Ring gegen den direkten Konkurrenten Ultima IX. Aber der Newcomer will dank innovativem Gameplay und einer satten Portion Rollenspiel selbst Baldur`s Gate 2 in Verlegenheit bringen. Ob die Senkrechtstarter aus dem Ruhrgebiet den britannischen Riesen ausknocken und die Schwertküste unsicher machen können, erfahrt Ihr in unserem ausführlichen Test! Story Der Schatten des Krieges liegt über dem Königreich Myrtana. Feindliche Heere brandschatzen Dörfer und Orks ziehen plündernd durchs Land. König Rhotbar ruft zu den Fahnen und bietet den Eindringlingen die Stirn, doch mit der Zeit wird der wichtigste Rohstoff knapp: magisches Erz. Um Rohstoff und Bewaffnung zu sichern, wollen zwölf Magier eine riesige Sphäre der Macht über den Minen von Khorinis errichten - doch etwas geht schief: Nicht nur die Minenarbeiter und marodierende Monster, sondern auch die Magier werden von der Barriere eingeschlossen. Dumm gelaufen: Königliche Richter verurteilen Euch nämlich zu lebenslanger Zwangsarbeit in diesem riesigen Minenareal, wo bereits drei verschiedene Lager - das alte, das neue und das der Sekte - um die Macht kämpfen. Gerade angekommen, werdet Ihr von ein paar kräftigen Faustschlägen samt böser Drohungen begrüßt. Euer Abenteuer beginnt… Gameplay In der seit Lara-Zeiten populären 3rd-Person-Perspektive bewegt Ihr Euch durch die weiträumigen und stimmungsvollen 3D-Landschaften. Die Steuerung erfolgt per Tastatur und dürfte dank unterstützter Mausfunktion keine Probleme bereiten. Nur traditionelle Rollenspieler, die ein rundenbasiertes Kampfsystem gewöhnt sind, werden sich an die actionlastigen Kämpfe gewöhnen müssen. Leider ist das Interface zu Beginn etwas gewöhnungsbedürftig: Insbesondere beim Handel mit NSCs (Nicht-Spieler-Charaktere) erweist sich das Menü als umständlich. Was gleich zu Beginn auffällt, ist das Fehlen der typischen Charaktererschaffung: Euer Recke geht quasi frei von Klassen- und Rassenbeschränkungen ins Spiel - bis auf die Tatsache, dass Ihr männlich seid. Den weiteren Verlauf Eurer Karriere bestimmt Ihr selbst durch Verteilung der bei Levelaufstieg gewonnenen Lernpunkte. Diese dynamische Charakterentwicklung lässt jeden Rollenspieltyp auf seine Kosten kommen: Ihr könnt Euch auf Eure Stärke oder die Geschicklichkeit konzentrieren, die Diebesfähigkeiten wie Schleichen oder Schlösser knacken trainieren, lieber auf Waldläuferart zum Bogen greifen oder einen von drei magischen Pfaden beschreiten. Am Anfang seid Ihr jedoch der Neue, ohne Beziehungen, schwach und fette Beute für alle Halunken des Lagers. Es wird zwar jeden Helden schmerzen, aber zunächst gilt es, das eigene Überleben zu sichern - sei es mit Schutzgeldzahlungen, falschen Schmeicheleien oder feigen Rückzügen. Im Gegensatz zur Hochachtung, die dem Avatar in Britannia entgegengebracht wird, trefft Ihr hier auf knallharte Machtverhältnisse und müsst bei den Multiple-Choice-Dialogen gut abwägen, wie Ihr auf Euer Gegenüber reagiert. Diese Interaktion mit den NSCs wirkt lebendig und äußerst authentisch, weil die verschiedenen Charaktere nicht einfach da sind, um Euch mit Aufträgen zu versorgen, sondern Ihr Eigenleben führen - hier braucht Gothic selbst den Vergleich zum Dreamcast-Hit Shenmue nicht zu scheuen: Zieht Ihr Eure Waffe im Lager oder in der Nähe von Wachen, gehen diese wütend auf Euch los und Ihr habt einige Sekunden Zeit, eine weise Entscheidung zu treffen. Oder wenn Ihr eine fremde Hütte betretet, dürft Ihr Euch der Unfreundlichkeit und der Axt des Bewohners sicher sein. Geht Ihr jedoch schnell genug raus, kommentieren manche Euer Verhalten mit "Ist auch besser so!" oder "Ah, Du lernst schnell!". Dasselbe gilt für fremden Besitz: Auch wenn Ihr ein gemütliches Lagerfeuer-Pläuschchen mit Minenarbeitern haltet, werden die netten Kumpel sofort ihre Keulen zücken und Euch zusammenschlagen, wenn Ihr Euch an deren Truhe wagt. Leider gilt das nicht konsequent für alle Bereiche des Spiels, denn so manchen wichtigen Raum könnt Ihr einfach plündern, ohne Reaktion der Wächter - schade, schade. Trotzdem: Gothic definiert den Begriff Interaktivität neu und wird vor allem anspruchsvolle Rollenspieler begeistern, die gerne zwischen Verbündeten abwägen, eigene Entscheidungen treffen und offene Quests lieben. Im Laufe der einzelnen Kapitel werden dann, wie bei Baldur`s Gate 2, neue Plots und Queststrukturen freigeschaltet. Kämpfe Die Kämpfe laufen in Echtzeit ab und Ihr könnt, ähnlich aber weniger komplex wie bei Severance, bestimmte Spezialattacken durch die Kombination Mausklick plus Richtungstaste ausführen. Der Schwierigkeitsgrad ist je nach Art und Anzahl der Gegner unterschiedlich, daher sollte man bestimmte Gegenden zu Beginn meiden. Neben einem reichen Arsenal an Nahkampwaffen könnt Ihr auch auf Bögen setzen, oder Euren Gegnern mit Magie trotzen. Es gibt drei verschiedene Magierichtungen, verteilt auf die jeweiligen Lager: Feuer im alten, Wasser im neuen und psionische Magie im Sektenlager. Die KI (künstliche Intelligenz) der Gegner verdient ein besonderes Lob, denn jedes Spezies verhält sich anders: Listige Monster umzingeln Euch, andere drohen erst, manche lassen Euch laufen und andere verfolgen Euch gnadenlos bis zum nächsten Wachposten. Sobald Ihr genügend Erfahrung gesammelt habt (Kämpfe, Quests) steigt Ihr eine Stufe auf und bekommt Lernpunkte, die Ihr dann bei einem entsprechenden Trainer in Fähigkeiten umwandeln könnt. Etwa 500 verschiedene Monster bzw. Gegenertypen warten auf Euch, darunter mickrige Fleischwanzen, hungrige Warane, gefährliche Wölfe, flinke Goblins, furchterregende Orks oder Untote. Atmosphäre Wer Gothic spielt wird sofort an diverse Gefängnis- und Gang-Filme erinnert. Keine feinen Elfen, keine Hochglanzburgen mit Fanfarengesang und kein episches Geschwätz vom Kampf "Gut gegen Böse". Im Gegensatz zur klassischen Fantasy-Thematik bietet Gothic eine erfrischend neue und glaubhafte Welt mit bedrohlicher Lager-Atmosphäre. Hinzu kommt die Malocher-Mentalität der etwa 250 NSCs, die mit ihren derben und witzigen Sprüchen dem ganzen Szenario so richtig Leben einhauchen und irgendwie an den Ruhrpott erinnern. Nach der Arbeit entspannen sich Gardisten und Buddler, trinken ihr Bier am Lagerfeuer, rauchen die ein oder anderen Sumpfgras-Tüte und wenn die Blase drückt, geht man sich eben in einer dunkle Ecke erleichtern - akustisch äußerst realistisch umgesetzt. Die überaus detaillierte Sozialstruktur der drei Lager ist weltweit einzigartig und dürfte neue Maßstäbe im Rollenspielbereich setzen. Jedes Lager kann nicht nur mit charakteristischer Kleidung, Bewaffnung und Handelswaren begeistern, sondern auch durch eigene Hierarchien und Machtverhältnisse, die die Welt von Gothic erst so richtig lebendig machen. Die einzelnen Lager unterscheiden sich nicht nur optisch, sondern auch hinsichtlich der Ziele, der internen Machtverhältnisse, der Magie und der NSCs. Gerade diese Vielfalt macht einen besonderen Reiz von Gothic aus, denn schließlich muss man sich irgendwann einem Lager anschließen. Die Entwickler lassen Euch lobenswerter Weise so viel Spielraum, dass Ihr mittels kleinerer Quests jedes Lager kennen lernen könnt, ohne Euch dadurch endgültig für eine Seite zu entscheiden. Die Qual der Wahl zwingt Euch, immer tiefer in die Machenschaften der einzelnen Gruppierungen vorzudringen. Grafik Gothic setzt nicht auf Hochglanz-Fantasy, sondern auf derbes Mittelalter-Flair: Kristallpaläste, Hochglanzsäle und glitzernde Rüstungen gibts nicht. Dafür matschige Lager, düstere Minen und urige Außenbezirke. In den Lagern dominieren Holz, Stein und Leder. In der etwa 2km² großen Landschaft findet Ihr von der weiten Wiese, über enge Schluchten bis hin zu schaurigen Wäldern beeindruckend natürlich wirkende Locations. Riesige, und vor allem angenehm stimmungsvoll gestalte, Landschaften, versteckte Höhlentrakte, lauschige aber gefährliche Wälder und rauschende Wasserfälle machen die 2km² Gothic zu einem Erlebnis - wenn denn Eure Hardware die entsprechende Sichtweite und Detailstufe erlaubt. Überall gibt es Kleinigkeiten zu entdecken, die selbst Erkundungen ohne Quests und Kämpfe das Flair einer (gefährlichen) Sightseeing-Tour verleihen: Arbeiter reparieren ihre Hütten, im Wald fällt ab und zu Laub von den Bäumen, und wenn es dunkel wird, legen sich gefräßige Scavenger-Rudel schlafen, während Sternschnuppen am Himmel aufleuchten. Überhaupt gehören die liebevoll texturierten und animierten Monster zu den Highlights des Spiels. Dadurch, und dank des Tag- und Nachtwechsel sowie der tollen Wettereffekte wirkt Gothic äußerst lebendig. Aber erst das authentische Eigenleben der NSCs, die mit schönen Gesichtsanimationen begeistern, macht das Ganze zu einem echten Rollenpielerlebnis: Morgens sind die meisten müde, recken und strecken sich, gehen dann fluchend Ihrer Arbeit nach, schwatzen mit Freunden, erleichtern sich nach ein paar Bier und gehen abends wieder zu Bett. Die Grafik hinterlässt bei genauerem Hinsehen zwar manchmal einen oberflächlichen Eindruck (Bitmap-Bäume, Clipping-Fehler), aber insgesamt bleibt die Optik eindrucksvoll. Sound Die stimmungsvolle Musikuntermalung schafft es, sich einprägsam aber nie aufdringlich in die herbe Mittelalter-Atmosphäre einzubringen. Zu den epischen Melodien gesellen sich situationsabhängige Soundeffekte, die der faszinierenden Welt von Gothic den letzten Schliff geben: Vögel zwitschern, Wachen murmeln, Arbeiter fluchen, Schmiede hämmern und wenn sich der Himmel verdunkelt, naht ein leises Donnergrollen, bevor Regentropfen vom wolkenverhangenen Firmament prasseln. Die Wettereffekte und der bewegte Himmel tragen zwar einen großen Teil zur stimmigen Atmosphäre bei, aber erst die ausgezeichneten Sprechern setzen Gothic das Sahnehäubchen auf: Noch nie wirkten Gespräche so realistisch und so lebendig. Außerdem dürfen sich alle Fans derber Spielmannsmusik auf den Auftritt von In Extremo freuen! Pro: - spannende Story - riesige 3D-Welt mit prächtigen Locations - schöne Wettereffekte - stimmungsvolle Soundkulisse - hervorragende Sprecher - glaubwürdige NSCs - sehr gute Monster-KI - realistische Lager-Atmosphäre - große Handlungsfreiheit - logisches Gameplay - sehr gute Quest-Struktur - ausgewogene Spielbalance Kontra: - umständliches Interface - Gameplay-Bugs - inkonsequente KI - hier und da Clipping-Fehler - hohe Hardwareanforderungen - lange Ladezeiten Vergleichbar mit: Ultima IX, Summoner, Baldur`s Gate 2 FAZIT Gothic fasziniert von der ersten Minute an, und langsam aber sicher wird Euch der Gameplaystrudel immer tiefer in das Lagerleben entführen: Dichte Atmosphäre, große Handlungsfreiheit und sehr gute Queststruktur machen Gothic zu einem Ausnahmespiel, das weltweit neue Maßstäbe in Sachen Rollenspiel setzt. Wenn ich in eine Welt eintauchen kann, alles um mich herum vergesse und fasziniert auf den Monitor starre, sind das die typischen Anzeichen für ein Ausnahmespiel. Vor allem die Interaktion mit den NSCs sowie die Freiheit im Gameplay machen Gothic zum Referenztitel. Hätten die Entwickler ein technisch reiferes Produkt abgeliefert, und vor allem die zahlreichen Gameplay-Bugs ausgemerzt, wäre Gothic wohl zum Gipfelstürmer geworden. Trotzdem: Kompliment nach Bochum, Gothic ist einfach fantastisch!